Interview mit Plattdeutsch-Experte Jan Graf
Der SHHB hat beschlossen, sich verstärkt der Revitalisierung des Plattdeutschen zu widmen. Referent Jan Graf im Interview

"Wir wollen den ganz großen Plan für das Plattdeutsche!"
„Europa ist ein Konzert und die plattdeutsche Stimme gehört, wie alle anderen auch, ins Orchester“, sagt Jan Graf, seit 2019 Referent für Niederdeutsch und Friesisch beim Schleswig-Holsteinischen Heimatbund, kurz SHHB. Nach seinem Germanistikstudium mit Schwerpunkt Niederdeutsch und einer Ausbildung zum Logopäden war Graf 20 Jahre beim NDR als Journalist fürs plattdeutsche Programm im Einsatz. Für Graf gehört das Plattdeutsch wie das Hochdeutsche zum Alltag, beruflich wie auch in seinem Familien- und Freundeskreis.
Wie sieht die Arbeit eines Referenten für Niederdeutsch beim SHHB aus, der sich als Dachverband für alle Vereine, Verbände und private Organisationen versteht, die sich in der Geschichte des Landes, der niederdeutschen und friesischen Sprache vor Ort und regional engagieren?
Jan Graf: Das reicht von Planung und Organisation des plattdeutschen Ausschusses, bis hin zum sprachpolitischen Engagement, wenn es darum geht die Kampagne „Funklock stoppen“ nach vorne zu bringen. Es reicht von der Organisation plattdeutscher Seminare zum Thema Schreibung oder Vortrag bis hin zum Besuch bei den Mitgliedsvereinen mit einem Fachvortrag zum Thema „Plattdeutsch in Schleswig-Holstein“ in der Tasche. Es ist vielschichtig.
Wie steht es um die plattdeutsche Sprache? Immerhin sagen ein Viertel der Schleswig-Holsteiner, dass sie es gut oder sehr gut sprechen können.
Jan Graf: Ein Viertel der Befragten in Schleswig-Holstein – das klingt gar nicht schlecht. Aber: Mal abgesehen davon, dass es sich bei dieser Angabe um eine Selbstaussage der Befragten handelt, müssen wir feststellen, dass es vor allem die Älteren sind, die Plattdeutsch sprechen und es zum großen Teil versäumt haben, diese Sprache an die nächste Generation weiterzugeben. Und morgen sieht die Angelegenheit durch sterbebedingten Abgang dann schon ganz anders aus. An der Westküste, in Nordfriesland und Dithmarschen erleben wir hier und da das Plattdeutsche noch als lebendige Umgangssprache, im übrigen Teil des Landes eher nicht. Es gibt ein verzweigtes Netzwerk in Schleswig-Holstein, dass sich um Pflege und Erhalt des Niederdeutschen bemüht. Hier gedeihen durchaus erfolgreiche Vorhaben, die in Zusammenarbeit mit der Politik umgesetzt werden. So gibt es inzwischen 44 Modellschulen, an denen Kinder über die typischen AGs hinaus Plattdeutsch als Sprache erlernen können. Dennoch sehen wir, dass das Management der plattdeutschen Sprache verglichen mit anderen kleinen Sprachen in Europa um einige Jahrzehnte zurückhängt. Mit dem Verankern der Pflege in der Landesverfassung, mit dem Bekenntnis des Landtages, Plattdeutsch sei Teil der Schleswig-Holsteinischen Identität, mit dem sichtbaren Bemühen so vieler Menschen um unsere Sprache ist eigentlich klar gesagt – wir wollen Plattdeutsch bewahren. Aber das Wie des Unterfangens müssten wir nochmal genau besprechen und uns dabei – zumal als Sprecher des Niederdeutschen - vielleicht von einigen schädlichen Glaubenssätzen wie „Plattdeutsch ist gemütlich“ oder „Plattdeutsch kann jeder schreiben, wie er mag“ oder „Plattdeutsch kann man nicht lernen, damit muss man aufgewachsen sein“ lösen. Diese führen nicht dazu, Menschen in großer Zahl dazu zu bewegen, sich dem Plattdeutschen im Zweitspracherwerb zu nähern. Dieser – der Erwerb des Plattdeutschen als Zweitsprache - wird aber mit dem bisher nicht gestoppten Abschmelzen der häuslichen Vermittlung wichtiger und wichtiger. Da sind andere Sprachen in Europa wie Samisch, Rätoromanisch oder bei uns in Deutschland das Sorbische wesentlich weiter.
Während der Jahreshauptversammlung wurde beschlossen, die Sprache zu stützen, wo sie noch gesprochen wird und die Sprache zurückzuholen, wo sie mal gesprochen worden ist. Wie soll das konkret umgesetzt werden?
Jan Graf: Dies wurde beschlossen als ein übergeordnetes Ziel unserer Arbeit für das Plattdeutsche. Es geht darum - so wie dies längst für andere kleine Sprachen in Europa geschehen ist – ein Gespräch über einen nachvollziehbaren und überprüfbaren Plan für unsere Sprache in Gang zu bringen. Der schwarz auf weiß gefasste Entschluss zur Revitalisierung macht ja nur explizit, woran so viele bereits implizit arbeiten, wenn sie sich als Ehrenämtler um plattdeutsche Gottesdienste kümmern oder aber als Ministerium ein aufwendiges Wörterbuchprojekt fünfstellig fördern. Es geht darum, dass wir uns bewusstmachen, wohin wir eigentlich wollen! Und wenn uns das wirklich klar ist, wir es wirklich ernst nehmen mit der Bewahrung und Revitalisierung, dann resultiert daraus einiges, was jetzt geschehen muss und worüber wir uns dann konzentriert und strukturiert und immer im inspirierenden Vergleich mit den anderen kleinen Sprachen Europas unterhalten müssen. Konkret geht es darum, ein analytisches Modell zugrunde zu legen, mit dem die Linguistik bereits seit einem guten halben Jahrhundert arbeitet. Oben drüber steht das Ziel, unten drunter stehen die Säulen Sprachkorpus, Sprachstatus und Spracherwerb. Sprachkorpus fragt nach der Sprache an sich mit all ihrem formalen Inventar wie z.B. Wortschatz, Grammatik oder Schreibweise. Sprachstatus fragt nach dem Ansehen, welches die Sprache genießt und ihre Reichweite in verschiedenen Feldern von Unterhaltung über Verwaltung bis Wissenschaft. Spracherwerb stellt die Frage, wo Menschen die Sprache lernen (können). Ein Beispiel: Desiderat des Plattdeutschen ist ein öffentlich-rechtliches Programm, wie es andere kleine Sprachen in Europa haben. Auf das analytische Modell bezogen könnte man sagen: So ein Vollprogramm, das auf Platt über Welt und Region berichtet, würde eine gute und formenreiche Sprache verwenden und daher durch mediales Vorbild im Feld Sprachkorpus einer formalen Verarmung und Verhochdeutschung des Plattdeutschen entgegenwirken. Auch müssten neue Begriffe gefunden werden, um die Welt plattdeutsch zu beschreiben. Diese würden den Wortschatz erweitern. So ein Vollprogramm würde das Plattdeutsche als vollwertige Sprache in der Domäne Journalismus präsentieren und in allen relevanten Darreichungsformen auftreten lassen. Im Feld Sprachstatus wäre daher vermutlich ein Prestigegewinn festzustellen. Und natürlich spielte so ein Programm auch eine Rolle für das Feld des Spracherwerbs: Radio an und eintauchen in die Sprache. Wo alles um mich inzwischen hochdeutsch ist, gibt es hier gute plattdeutsche Immersion auf Knopfdruck. Es gibt eine Kampagne, die sich für ein solches Programm einsetzt. Sie heißt „Funklock stoppen“. Aber auf das Ganze bezogen ist „Funklock stoppen“ nur ein Teil. Wir wollen den großen Plan für das Plattdeutsche. Dieses Ziel der Revitalisierung, das da jetzt beschlossen wurde, ist der erste Schritt.
Förderung der Mehrsprachigkeit, das Wissen um seine eigene Wurzeln und das Bedürfnis, sich zu präsentieren: Was kann die plattdeutsche Sprache unserer Gesellschaft geben?
Jan Graf: Wir leben in einem gewachsen mehrsprachigen Raum. Nach einigen unseligen Jahrzehnten, in denen man geglaubt hat, ein mehrsprachiges Aufwachsen schade dem Kind, da es dieses in Verwirrung bringe, klärt uns spätestens seit den 90ern die Sprachwissenschaft darüber auf, dass ein mehrsprachiges Aufwachsen zumeist förderlich ist. Unter anderem bereitet es einen unbefangeneren Zugang vor, wenn es später darum geht, weitere Sprachen zu erwerben. Global betrachtet ist Mehrsprachigkeit übrigens der Normalzustand. Wo durch Plattdeutsch Mehrsprachigkeit noch erreichbar ist in den Familien – einfach nutzen, Ihr macht das großartig! Ein anderes Motiv ist jenes der Verortung. Ja, auch jenseits der Folklore kann eine Sprache so etwas wie ein Zuhause sein. Die Leute leiden doch darunter, dass ihre Welt immer unübersichtlicher und abweisender wird. Wokeen bün ik un wo kaam ik her? Manchen hilft das Plattdeutsche als eher regional gebundene Sprechweise, sich zu verorten, wie man so schön sagt. Ich will dazu gar nicht viel sagen. Die Gesellschaft muss selber wissen, ob sie dieses kulturelle Pfund durch unterlassene Hilfeleistung versanden lassen will oder nicht. Ehrlich: Von mir aus können wir es auch bleiben lassen. Meine Kinder sprechen mit mir Plattdeutsch, bis ich in die Kiste hüpfe, und dann ist gut. Sollten wir aber als Gemeinschaft begreifen – aus welchen Gründen auch immer – dass dieses Gut groß- und einzigartig ist, weil nur wir es in diesem Teil der Welt haben, und sollten wir feststellen, dass es zum Vielklang der Stimmen gehört und wir geradezu eine Bringschuld tragen, der Welt diese Stimme zu sichern, sollten wir wirklich begreifen, dass es ein äußerst wertvolles Erbe ist, das wir unseren Kindern schenken können – eine eigene Sprache, begreifen wir wirklich, wie kostbar das ist? – dann vielleicht mehr aus einem Gefühl, einer Ahnung heraus als aus einem rationalen Abwägen. Schwer in überzeugende Worte zu fassen. Ich mach´s mal biblisch: Wer Ohren hat, der höre! Wie gesagt, wir können es auch bleiben lassen, aber es soll mir hinterher keiner klagen, ihm fehle etwas.
Wo begegnet man der plattdeutschen Sprache in der Kulturszene außer auf Niederdeutschen Bühnen?
Jan Graf: Im Programm des NDR kann man suchen und fündig werden, in Social Media passiert einiges, es gibt eine gewisse aber viel zu kleine Musikszene. Nun, an einer Suchmaschine im Internet wird man wohl nicht vorbeikommen. Gemessen an der Anzahl der Sprecher ist der Kulturbetrieb zu klein und erfordert ein echtes Interesse, um entdeckt zu werden.
Was ist eigentlich der Unterschied von Sprache und Dialekt?
Jan Graf: Plattdeutsch wurde gerne als Dialekt des Hochdeutschen betrachtet. Aber ich glaube, das sagt heute keiner mehr, obwohl der jahrhundertelange massive Einfluss des Deutschen natürlich Folgen hatte. Bei isolierter Betrachtung z.B. der Morphologie stellt man fest, dass das Niederdeutsche weiterhin ziemlich eigenständig ist. Ob auf –en (jem maken, Nordfriesisches Platt) oder wie auf altsächsischem Gebiet auf -t (ji maakt, z.B. Holsteiner Platt) – wir haben den Einheitsplural, während Hochdeutsch im Plural wechselt: Wir gehen, ihr geh-t, sie gehen. Plattdeutsch stellt sich da anders als das Deutsche zum Nordseegermanischen, auch, was z.B. den Nasalausfall betrifft. Englisch Goose, Plattdeutsch Goos, aber Hochdeutsch Ga-n(!)-s. Dies nur als kleine Beispiele. Es gibt da einen Abstand zwischen den Sprachen in Lautung, Grammatik und Wortschatz, der einfach da ist. Der alte Klaus Groth hat Plattdeutsch und Hochdeutsch gerne als Zwillingsbaum beschrieben, zwei eigenständige Stämme aus gleicher Wurzel. Wie auch immer: Wir beziehen uns heute auf das Altsächsische und später des Mittelniederdeutsche als unsere Vorstufen und postulieren mit guten Argumenten unterlegt den Anspruch der Eigensprachlichkeit des Plattdeutschen. Europäisch verbrieft übrigens durch die Aufnahme unserer Sprache in die Charta der Regional- und Minderheitensprachen. Das Plattdeutsche hat Dialekte, aber es ist kein Dialekt.